Ich bin clean.
Seit 7 Jahren kämpfe ich nicht mehr gegen mich an oder besser gesagt kämpfe für mich. Es ist ein dunkles Geheimnis, über das ich nur mit wenigen gesprochen habe und auch nicht sprechen werde. Wieso blogge ich nun also darüber?
Ich habe Bulimie.
Ich habe, weil sie noch nicht vorbei ist und auch wahrscheinlich nie wirklich weg gehen wird. Seitdem ich 16 bin, hat sie sich wie ein Schatten auf mein Leben gelegt und begleitet mich seit jeher. Mal schlimmer, mal gar nicht.
Nun, aber zurück zur Frage, wieso schreibe ich darüber?
Jeden Tag sehe ich Mädchen und junge Frauen, der Modewelt und der Bloggersphäre ausgesetzt und mit ihr konfrontiert. Es dreht sich alles um Ernährung, Diäten, Size Zero und ums schlank und hübsch sein.
Natürlich stellt sich jede Frau, mal öfter, mal weniger die Frage, bin ich hübsch oder was könnte man an mir hübsch finden? Bin ich attraktiv, wie wirke ich auf andere und was könnte ich optimieren um mich schöner zu fühlen.
Gerade im Teenager-Alter, wenn die größten Veränderungen auf uns zu kommen, beobachten wir andere und versuchen uns zu optimieren. Wir tragen plötzlich andere Kleidung, schminken uns und versuchen schnellstmöglich erwachsen zu wirken. Dieses „sich optimieren“ hört eigentlich nie auf. Wie viele Frauen gibt es, die nicht mal ohne Make up kurz mal rausgehen können um den Müll runter zu bringen?
Ich muss zugeben, ich schminke mich eigentlich nie. Das liegt vor allem an meiner sensiblen Haut, die einfach kein Make up verträgt. Das höchste der Gefühle sind Concealer, Wimpertusche, vielleicht auch ein wenig Rouge. An ganz besonderen Tagen, dann vielleicht noch ein Lidschatten oder sogar ein Lidstrich. Früher war das nicht so. Ich habe mich geschminkt ausprobiert und meine Haut gequält. Ich hatte nie schlimm Akne oder Pickel, meine Haut hat einfach allergisch reagiert, nur habe ich damals als 14 Jährige natürlich nicht darauf gehört.
Wie kam es aber zu meiner Leidensgeschichte?
Ich war als Kind schon immer sehr oft krank, in der Grundschule kam dann heraus, dass eine meiner Nieren nicht so funktionierte, wie sie sollte. Ich brach zusammen und landete im Krankenhaus. Es folgten Wochen von Krankenhausaufenthalten, Aufpeppelversuche durch meine Eltern und Medikamente. Ich wurde immer pummeliger und deswegen in der Schule gehänselt. Ich erinnere mich bis heute, an einen Tag in der 5. Klasse, wo ich im Flur meiner Schule stand und von einem Jungen aus meiner Parallelklasse ins Gesicht gesagt bekam, man bist du hässlich...
Das kleine pummelige Mädchen mit der dicken Brille, bekam zu allem Verdruss nach dieser Aussage eine Zahnspange. Ich fühlte mich einfach furchtbar. Mein Körper wuchs und ich war im Schnitt einen Kopf größer als meine Klassenkameraden. Durch diesen Wachstumsschub, wurde auch mein Körper femininer.
Ich hasste mich.
Ich hasste mich so sehr, dass ich naschte und immer pummeliger wurde. Eine damalige Freundin empfahl mir in der 7. Klasse, mach doch einfach mal eine Diät, dass macht meine Mutter auch wenn sie abnehmen will. Ich fing also an, über meine Ernährung nachzudenken. Ich naschte nicht mehr und versuchte weniger zu essen. Die Klamotten passten langsam wieder besser. Ich fing an Sport zu treiben, 2-3 mal die Woche. Mit einer Freundin machten wir große Spaziergänge um in Bewegung zu bleiben, damit auch uns mal so ein bauchfreies Top passen würde.
Ich nahm ab und wurde immer glücklicher. Ich bekam meinen ersten Freund und wurde plötzlich in der Gruppe integriert. Ich ließ meine Haare wachsen, besorgte mir Kontaktlinsen und wurde immer weniger zu dem kleinen hässlichen Mädchen.
Ich wurde 16 und ging dazu mit einer Freundin in, wie soll ich sagen, heute würde ich es liebevoll Dorfdisco nennen. Dort lernte ich meinen ersten richtigen Freund kennen, also jemandem mit dem es über Briefchen schreiben im Unterricht und Händchen halten in der Pause hinausging. Ich war total vernarrt und konnte es kaum glauben, dass ich ihn zu interessieren schien. Wir gingen zusammen ins Kino, trafen uns nach der Schule im Schwimmbad und alles schien gut zu laufen. Ich lernte seine Eltern kennen, vor allem seine bildhübsche und super schlanke Mutter.
In den 9 Monaten in denen wir zusammen waren, nahm ich wieder zu, den ich vernachlässigte den Sport und aß natürlich wieder mehr. Ich merkte wie sich unsere Beziehung veränderte und fragte ihn, ob etwas los sei. „Naja, du hast etwas zugelegt seitdem wir zusammen sind…“
Ich gebe zu, heute würde ich einen Typen Ohrfeigen, wenn er so etwas zu mir sagen würde, aber mein damaliges Teenager-Ich, nahm sich diese Aussage ziemlich zu Herzen. Ein paar wenige Tage danach machte er Schluss.
Ich war fertig mit der Welt. Ich wollte nichts mehr essen, ich wollte gar nichts mehr.
Ich dachte nach, wie konnte das nur passiert sein? Wir trafen uns noch einige Male, durch unsere gemeinsamen Freunde und ich hörte auch, dass er bereits neu liiert war. Natürlich war sie groß und schlank. Ich verkroch mich immer mehr und grübelte.
Eines Nachts wachte ich auf und erinnerte mich an seine Mutter. Ich dachte an unsere erste gemeinsame Grillfeier und wie sie sich danach weg geschlichen hatte, so wie sie es eigentlich nach jeder Mahlzeit tat. Ich erinnerte mich daran, wie ich aus versehen einmal ins Bad gegangen war und sie dabei erwischte.
War das vielleicht die Lösung?
Natürlich hatte ich von Magersucht und Bulimie in der Schule gehört oder darüber gelesen. Aber funktionierte es wirklich?
Ich erinnere mich bis heute, wie ich mich das erste Mal absichtlich erbrochen habe. Mein Vater hatte seine berühmten Spaghetti gekocht und meine Eltern waren danach mit dem Hund spazieren gegangen. Ich stahl mich ins Badezimmer und erbrach mich.
Ein Gefühl des Glücks überkam mich und ich war fasziniert davon, wie einfach es war.
Somit war der Anfang gesetzt. Erst erbrach ich mich nur abends. Dann auch in der Schule. Ich dachte mir Geschichten von Magenerkrankungen aus und fand wirklich die unglaublichsten Wege um nach dem Essen meinem „Ritual“ nach zu gehen.
Ich wurde dünner und dünner und bekam Probleme in der Schule. Ich wechselte die Schule und kam in ein neues Umfeld. Neue Freunde, neue Lehrer, sodass ich einen Neuanfang starten wollte.
Anfangs klappte es ganz gut. Ich aß weniger, aber ich aß und erbrach mich nicht. Ich wurde fit und wieder fröhlicher. Meinen neuen Freunden erzählte ich natürlich nichts. Meinen Eltern versprach ich damit aufzuhören und eine Therapie zu machen, die ich aber bereits nach der ersten Sitzung abbrach.
So ging es einige Monate wieder gut und ich fühlte mich wieder frei. Dann traf es mich wieder. Eine Einladung zu einem Geburtstag aus meinem alten Freundeskreis. Es war ein Sturm der Gefühle des Zorns und des Hasses. Ich wollte an diesem Tag nur unglaublich aussehen und es fing wieder an.
Wenige Wochen später traf ich ihn und das einzige was ich hörte war: „Du siehst ganz schön abgemagert aus, du solltest mal wieder etwas essen. Du siehst ja schon aus wie meine Mutter.“
Es tat weh. Sehr weh. Und ich ließ dieses Kapitel, nach diesem Tag hinter mir. Die Bulimie konnte ich aber nicht hinter mir lassen. Immer wieder brach sie aus. Gerade dann wenn es stressig wurde, den es ging schon lange nicht mehr ums Schlank sein, vielmehr war sie zu einem Ventil für mich geworden.
Ich machte mein Abitur, zog von zuhause aus und musste das erste Mal für mich selber sorgen. Ich achtete nicht auf meine Ernährung, aß primär in der Mensa, stellte mich nicht auf meine Waage und kaufte mir neue Klamotten, wenn ich das Gefühl hatte meine alten wurden mir zu klein.
Weihnachten fuhr ich zu meinen Eltern nachhause und musste mir von Freunden anhören, dass das Studium ganz schön angesetzt hatte. Ich fühlte mich dick und war genervt.
Mein damaliger Freund, war mir auch keine große Hilfe. Es ging also wieder von vorne los. Ich schlich mich weg und erbrach mich wieder. Ich wurde wieder dünner und plötzlich klappte wieder alles. Mein Studium lief gut und ich dachte nicht viel nach. Meine Freundinnen waren alle dünn, also wurde ich auch dünn. Ich ging für mein Erasmussemester nach Krakau und lernte tolle Menschen kennen. Wir gingen viel weg und auch viel auswärts essen. Ich versuchte mein Gewicht immer im Blick zu behalten, doch es schmeckte einfach zu gut und ich fühlte mich wohl.
Das erste Mal in meinem Leben sprach ich damals mit einer Freundin über mein Problem.
Nach Krakau zog ich nach Berlin. Natürlich lösten sich dadurch nicht alle Probleme, aber ich begann eine Therapie. Anfangs zweimal wöchentlich und es fing an mir zu helfen. Ich sah plötzlich meine Schwachstellen und auch die Punkte, die sich ändern mussten. Ich trennte mich von allem, was mich krank machte und wollte, mal wieder ein neues Leben starten. Dann begann die Examensvorbereitung. Ein Stress, vor allem ein mentaler, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Mir wurde andauernd übel und ich musste mich erbrechen. Mein Therapeut wollte mich in eine Klinik schicken, doch ich versprach Besserung. Ab da an, verschwieg ich ihm meine Ausbrüche. Jeden Monat wurde es stressiger und stressiger und ich konnte nicht mehr. Ich brach meine Therapie wegen Zeitmangels ab und existierte nur noch in einer Welt aus Lernen, Sport und Erbrechen.
Im Dezember 2012, flog ich zur standesamtlichen Hochzeit meiner besten Freundin. Es war ein wunderschöner Tag und die unglaubliche Freude in den Gesichtern der beiden, ließ mich auf meinem Rückweg nach Berlin über vieles nachdenken.
Was war in meinem Leben falsch gelaufen? Wieso konnte ich als Kontrollmensch, nur mich nicht kontrollieren?
An dem Abend nach der Hochzeit, fuhr ich zu einer Weihnachtsfeier, an der ich mit einer Freundin verabredet war. Natürlich handelt es sich hierbei um die berühmt berüchtigte Weihnachtsfeier, an der ich meinen Mann getroffen habe. Es war wirklich Liebe auf den ersten Blick und wir redeten die ganze Nacht hindurch. Einige Tage später trafen wir uns zum Käsekuchen essen. Es war ein wunderschöner Nachmittag, bis mir wieder schlecht wurde. Er fragte mich ob, alles in Ordnung sei und ich erzählte es ihm.
Ich erzählte ihm alles.
Wieso, weshalb, warum. Seitdem kämpfen wir gemeinsam und ich kann ihm immer erzählen, wenn es wieder kommt, ohne das ich mich darüber schämen muss.
Seit fast 7 Jahren bin ich nun clean. Das Gefühl ist schon länger weg und wenn es stressig wird, dann ist mein Mann mein Fels in der Brandung. Mein Körper hat sich verändert, die Schwangerschaft hat Kilos und Narben hinterlassen, trotzdem bin ich mit meinem Körper zufrieden und stolz auf das was er geschafft hat.
Wieso nur schreibe ich darüber?
Ich weiß, dass mich nun viele mit anderen Augen sehen werden und das ist auch gut so. Den jeder von uns hat ein Geheimnis und in diesem Fällen,wie Essstörungen sollte es kein Geheimnis bleiben.
Ich weiß, wie schwer es ist um Hilfe zu bitten. Ich weiß, wie schwer es ist, aus diesem Kreis auszusteigen. Nicht nur aus dem Kreis der Essstörung, sondern auch aus der Fixierung auf die „Optimierung“ von uns selbst. Vielleicht könnten mehr Menschen, offen mit ihren Problemen umgehen und anderen damit helfen?
Ich habe fast 30 Jahre gebraucht um mich zu akzeptieren, wie soll es also jemand jüngeres schaffen und das auch noch unter noch mehr Druck der heute durch die Medien entsteht? Size Zero hier, abnehmen dort und du bist nur etwas wert, wenn du eine XS trägst.
Wann wird sich unser Bild ändern, dass wenn wir uns akzeptieren und glücklich strahlen, wir am schönsten sind?
Nun gut, vielleicht helfe ich nur einer Person, oder gebe einem Mädchen/Frau den Denkanstoß, sich nicht mehr zu verstecken, dann hat sich mein Beitrag schon gelohnt und deswegen schreibe ich darüber.